Naturheilkunde
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Zum Jubiläum: Festvortrag von Prof. Dr. Gustav Dobos
Gehalten auf dem Gesundheitstag in der Philharmonie in Essen

Zum Jubiläum: Festvortrag von Prof. Dr. Gustav Dobos

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Naturheilkunde Forschung Gesundheitspolitik

Am 18. Juni wäre Dr. Veronica Carstens 100 Jahre alt geworden. Sie war eine außergewöhnliche, heute würde man sagen „tolle“, Frau, die ich einige Jahre auch ärztlich begleiten durfte, und ich denke mit großem Respekt und Zuneigung an sie zurück.

Vor allem aber mit Dankbarkeit, denn ohne die Initiative von Frau Carstens stünde die Naturheilkunde nicht dort, wo sie heute ist – sie ist ein wichtiger Teil der Medizin mit allen akademischen Ehren, auch wenn sich in jüngster Zeit die Anfechtungen wieder mehren. Das war auch damals der Fall, als Frau Carstens den Förderverein Natur und Medizin gründete – das zweite Jubiläum, das wir heute feiern. Vor 40 Jahren nämlich standen viele Mittel der traditionellen Heilkunde vor der Herausforderung, Wirkung und Unschädlichkeit nachweisen zu müssen oder unterzugehen – gemäß den Vorgaben eines neuen Arzneimittelgesetzes. Eine wissenschaftlich fundierte Naturheilkunde sollte, so die Vision von Veronica Carstens und ihrem Mann Karl, dem früheren Bundespräsidenten, den Sprung in die Medizin schaffen und gleichzeitig doch auch den Kontakt zur Bevölkerung nicht verlieren. So finanzieren die Mitgliedsbeiträge von Natur und Medizin zusammen mit Spenden sowohl die Überlieferung des traditionellen Wissens als auch dessen wissenschaftliche Erforschung und Verbreitung.

Natur und Medizin ist auf diesem Weg zu einer der größten Bürgerinitiativen im Bereich des Gesundheitswesens geworden. Den Mitgliedern von Natur und Medizin gilt mein besonderer Dank.

Ich möchte Ihnen aber auch dazu gratulieren, dass Sie sich durch Ihre Mitgliedschaft selbst etwas Gutes getan haben – denn das verlängert Ihr Leben! Sie haben richtig gelesen – es gibt eine Studie der Universität Harvard, in der der Psychiater Robert Waldinger herausgefunden hat, dass Bildung das Leben um zehn Jahre verlängert. Wenn Sie Mitglied bei Natur und Medizin sind, können Sie sich also freuen, denn Sie haben jederzeit die Gelegenheit, Ihr medizinisches Wissen auszubauen. Ich denke hier vor allem auch an die zahlreichen Selbsthilfeempfehlungen, zu denen Sie sich im Rahmen der Mitgliederpublikationen regelmäßig austauschen und wertvolles Wissen erhalten. Ihr Engagement ist aber auch eine wichtige Säule des Gesundheitswesens. Ohne Sie alle sähe mit Sicherheit die medizinische Landschaft heute anders aus.

Dr. Veronica Carstens mit ihrem Mann Prof. Dr. Karl Carstens
Dr. Veronica Carstens mit ihrem Mann Prof. Dr. Karl Carstens

Vereinbarkeit von Naturheilkunde und Schulmedizin?

Damals, vor 40 Jahren, schienen Schulmedizin und Naturheilkunde nicht zu vereinbaren zu sein, dies galt insbesondere für die Universitäten und die Ausbildung des medizinischen Nachwuchses. Es gab nur wenige niedergelassene Ärzte, die die Naturheilkunde und Homöopathie schätzten, und beides – Schulmedizin und komplementäre Verfahren – anwandten. Frau Dr. Carstens wollte dies nicht akzeptieren. Nach abgeschlossenem Medizinstudium, anschließender Promotion und sechs Jahren Krankenhaustätigkeit eröffnete Veronica Carstens in Meckenheim ihre eigene internistische Praxis. Hier konnte sie – anders als in den Kliniken – ihrer Leidenschaft nachgehen: Wann immer möglich, behandelte sie ihre Patienten aus einer Kombination von Schulmedizin, Naturheilkunde und Homöopathie – und zwar auch dann noch, als sie zur Bundespräsidenten-Gattin wurde und repräsentative Pflichten wahrnehmen musste.

Weil die Ehe kinderlos blieb, entschieden sich Veronica und Karl Carstens für ein anderes Vermächtnis – sie gründeten 1981 ihre Stiftung. Sie sollte dafür sorgen, dass Naturheilkunde und Homöopathie wissenschaftlich erforscht und der wissenschaftliche Nachwuchs gefördert werden. Der Zuspruch aus der Bevölkerung war schon damals enorm und viele Menschen wollten die Stiftung unterstützen. So kam es 1983 zur Gründung eines Fördervereins.

Veronica Carstens setzte sich bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 2012 unermüdlich und in vielfältiger Weise – lange Zeit auch als Vorstandsvorsitzende beider Einrichtungen – für die Stiftung und den Verein ein.

Sie begleitete mit großem Interesse die Forschungsprojekte der Stiftung, hielt zu vielen Forschungsleitern persönlichen Kontakt und scheute sich auch nicht vor Auseinandersetzungen mit den Gegnern der Naturheilkunde und Homöopathie. In ganz Deutschland hielt sie ihren berühmten Vortrag „Die Natur hilft heilen“. Sie pflegte einen intensiven Austausch mit den Natur und Medizin-Mitgliedern, verfasste zahlreiche Ratgeber und schrieb für jede Ausgabe der Mitgliederzeitschrift das Editorial.

Gründung der ersten Klinik für Naturheilkunde

Ich selbst lernte Frau Dr. Carstens bei der Feier zur Grundsteinlegung des NHK-Neubaus 1999 kennen, und sie hat mich mit ihrem klaren Blick aus ihren weisen, wohlwollenden blauen Augen sofort tief beeindruckt. Wir hatten 1999 hier in Essen am früheren Knappschaftskrankenhaus, heute Evangelische Kliniken Essen-Mitte, die erste Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin gegründet, zur Behandlung schwerer chronischer Erkrankungen. Anfangs bekamen wir von den ärztlichen Kollegen nur die aussichtslosesten Fälle überwiesen – uns sollte nicht gelingen, was andere nicht schafften. Aber unser Konzept, in Teamarbeit mit Ordnungs- und Mind-Body-Therapeuten mit wissenschaftlicher Naturheilkunde die Selbstheilungsressourcen unserer Patienten zu wecken, ging auf und bestand auch eine besonders harte Evaluation durch ein wissenschaftliches Experten-Team der Universitätsklinik Essen. Heute ist die Essener Klinik für Naturheilkunde in den Kliniken Essen-Mitte von Patienten wie Krankenkassen anerkannt und wurde zum Vorbild für andere Kliniken, auch für so renommierte Häuser wie die Berliner Charité oder das Zürcher UniversitätsSpital.

Von 2000 an ermöglichte die Carstens-Stiftung wegweisende Forschung zur Nutzung, Wirksamkeit und Sicherheit vielfältiger komplementärmedizinischer Verfahren. Mittlerweile hat sich die Klinik als eines der weltweit führenden Zentren der komplementärmedizinischen Forschung etabliert. Die meisten dieser Fortschritte verdanken wir dem Engagement von Stifterinnen und Stiftern – da die in anderen Bereichen der Medizin so wichtige Forschungsförderung durch Pharma-Unternehmen in der Naturheilkunde kaum eine Rolle spielt. Auch eine Finanzierung durch Institutionen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist äußerst selten, da die Naturheilkunde als Außenseiter in der Medizin gesehen wird.

Wir brauchen also dringend Unterstützung wie die von der Carstens-Stiftung und ihrem Förderverein Natur und Medizin – und nicht zuletzt Ihnen, den Mitgliedern von Natur und Medizin.

Was passiert mit dem Geld bzw. den Spenden?

Mit ihrem Habilitationsprogramm möchte die Carstens-Stiftung Erkenntnisse zur Prävention und Behandlung von Zivilisationserkrankungen gewinnen und gleichzeitig die Nachwuchslücke in der universitären Komplementär- und Integrativmedizin (KIM) schließen. Das ist besonders wichtig für die Anerkennung an den medizinischen Fakultäten der Universitäten wie auch in den Leitliniengremien. Eine Habilitation ist notwendig, um eines Tages Professor zu werden und Medizinstudenten und Ärzte auszubilden. Mit einer Gesamtfördersumme von bis zu 1,2 Millionen Euro ist das Habilitationsprogramm eines der größten Projekte der Carstens-Stiftung. Über einen Zeitraum von drei Jahren erhalten vier Habilitanden jeweils bis zu 300.000 Euro. Frau PD Dr. Petra Voiß ist die erste Ärztin, die mit Hilfe des Programms der Carstens-Stiftung nach harter Arbeit in ihrem Fachgebiet vor wenigen Wochen erfolgreich habilitiert hat. Sie ist die Ärztliche Leiterin der Integrativen Onkologie (Kombination aus Naturheilkunde und Schulmedizin) an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte.

Aktuelle Projekte der Stiftung

In allen medizinischen Fachdisziplinen und bei der großen Mehrheit der Erkrankungen zeigt die Naturheilkunde ihr großes Potenzial, indem sie die Regulationsfähigkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten anregt und stärkt. Besonders wichtig erweist sich das bei chronischen Krankheiten, wo die naturwissenschaftlich orientierte Hochleistungsmedizin allein nicht so recht weiterkommt. Die Carstens-Stiftung wird hier aktiv. So fördert sie künftig eine Forschungsplattform Multiple Sklerose (MS), die pharmakologische und nichtpharmakologische Therapieverfahren untersucht. Dafür stellt sie bis zu 900.000 EUR über einen Gesamtförderzeitraum von drei Jahren zur Verfügung. Ein anderes Projekt, an dem ich selbst mit der Universitätsklinik Essen beteiligt bin, läuft zum Post-COVID-Syndrom. Es soll die Therapie und Rehabilitation nach einer Coronaerkrankung verbessern. Die Forschungsplattform Demenz richtet sich an Wissenschaftler mit ausgewiesener Expertise in der neurologischen Geriatrie. Der Förderumfang beträgt 300.000 EUR über einen Gesamtförderzeitraum von bis zu drei Jahren.

Die Forschungsplattform Demenz soll dabei helfen, neue Ansätze für die Therapie von Demenzerkrankungen zu generieren.
Die Forschungsplattform Demenz soll dabei helfen, neue Ansätze für die Therapie von Demenzerkrankungen zu generieren.

Gerade erst ausgeschrieben wurde ein Förderprogramm zu den sogenannten „Nature-based Therapies“: Hier soll erforscht werden, wie Naturräume und Naturerleben auf die menschliche Gesundheit wirken und entsprechende Therapien in der Vorsorge und Behandlung eingesetzt werden können.

An drei Standorten in Deutschland wird ein Projekt zur Integrativen Pädiatrie realisiert. Es soll wirksame und sichere Therapien aus der Naturheilkunde und Homöopathie in die Versorgung von Kindern und Jugendlichen integrieren und die kleinen Patienten gleichzeitig vor unnötigen Maßnahmen und Wechselwirkungen schützen.

In der Naturheilkunde brauchen wir intelligente Forschungsansätze!

Ob es um die Wirkung naturheilkundlicher Therapien bei Herz-Kreislauferkrankungen geht oder um den Einsatz von Kohlwickeln bei der Knie-Arthrose – viele der von der Carstens-Stiftung geförderten Projekte erforschen und stärken das Potenzial der Betroffenen, selbst etwas gegen ihre Beschwerden tun zu können und zu ihrem Wohlbefinden beizutragen. Schließlich hat die Carstens-Stiftung auch einen Topf für Young Clinician Scientists: wissenschaftlich tätige Ärztinnen und Ärzte zu Beginn ihrer ärztlichen Weiterbildung. Der Förderumfang beträgt insgesamt 240.000 EUR pro Fellowship für drei Jahre.

Mit Hilfe der Mitglieder von Natur und Medizin konnte die Carstens-Stiftung bisher den unglaublichen Betrag von mehr als 40 Millionen Euro für Wissenschaft und Forschung in über 300 Projekten bereitstellen. Vielen Dank!

Wie soll es weitergehen?

Wissenschaft bedeutet, immer neue Fragen zu stellen. Die Antworten ändern sich im Laufe der Jahrhunderte. Leider ist diese Lust, Fragen zu stellen, selten geworden in unserer Gesellschaft, die immer mehr einem Szientismus zuneigt. Alles, was sich nicht wiegen und messen lässt, gilt schnell als unwissenschaftlich. In der Naturheilkunde brauchen wir intelligente Forschungsansätze, da wir nicht, wie in der Pharmaforschung, mit experimentellen Versuchsanordnungen arbeiten, sondern in der Versorgungspraxis, mit realen Menschen. Das Behandlungsumfeld spielt dabei genauso eine Rolle, wie die Psyche und Konstitution der Patienten. In der naturwissenschaftlich ausgerichteten sogenannten „Schulmedizin“ werden diese wichtigen Faktoren häufig als nebensächlich abgetan. Dabei ist Medizin viel mehr als nur ein körperliches Problem, auf das ein Wirkstoff „passt“. Auch wird die Prävention in Zukunft eine noch größere Rolle spielen.

Wie können wir uns in einer alternden Gesellschaft so lange wie möglich gesund und leistungsfähig halten? Die Naturheilkunde wird hierbei eine große Rolle spielen.

Momentan werden aber die „Besonderen Therapieverfahren“ – Pflanzenheilkunde, Anthroposophische Medizin und Homöopathie – in der Gesundheitspolitik in die Zange genommen. Obwohl – das zeigen alle Studien – zwischen 60 und 70 Prozent der Bevölkerung ihnen konstant die Treue halten und sich eine Behandlung mit Integrativer Medizin, also auch wissenschaftlicher Naturheilkunde wünschen.

Wenn dieses Wissen verloren geht, wenn wir nicht mehr fragen dürfen, was „Heilung“ eigentlich bedeutet und was Gesundheit befördert – wenn die Naturheilkunde keine weiteren Forschungsmittel erhält – ist sie zum Untergang verdammt. Deshalb bitte ich Sie, sie weiterhin mit Ihren Mitteln zu unterstützen und sich auch sonst für dieses Jahrtausende alte Heilwissen einzusetzen! Damit ehren und achten Sie und wir auch Frau Dr. Veronica Carstens, deren Mut und Begeisterung uns heute noch tragen!

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Prof. Dr. Gustav Dobos
Prof. Dr. med. Gustav Dobos

gründete und leitete 22 Jahre lang die Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte. Seit 2021 ist er Direktor des Zentrums Naturheilkunde und Planetare Gesundheit an der Universitätsklinik Essen.