Mind-Body-Medizin: Achtsam den Schmerz wegschieben
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Schmerz Achtsamkeit
Die Zuhörer der Mind-Body-Medicine Summer School in Essen wollten ihren Augen und Ohren nicht trauen. Die lebhafte Frau mittleren Alters, die vor ihnen auf der Bühne stand, erzählte, wie sie vor einigen Wochen im Rollstuhl in die Klinik für Naturheilkunde eingeliefert worden war – mit unerträglichen Schmerzen.
Eine Multiple Sklerose hatte ihr nicht nur jede Bewegung erschwert, die Entzündungsherde in ihrem Gehirn hatten auch zu einer Narbe dicht an der Hypophyse geführt. Die resultierende Durchblutungsstörung verursachte Schmerzen, wie sie nur selten beschrieben werden – mit der Zahl Neun auf einer Skala von Eins bis Zehn. Die Frau hatte keinerlei Lebenswillen mehr, so schlecht ging es ihr. An der Narbe ließ sich medizinisch nichts ändern. Schwere Schmerzmittel versetzten die Patientin nur in einen Dämmerzustand. Die Anamnesen brachten ein hohes Stresslevel zutage, verursacht durch eine laufende Scheidung von ihrem Mann, der gleichzeitig ihr Geschäftspartner war, und einen Konflikt mit dem erwachsenen Sohn sowie einen eher passiven Lebensstil.
In der Klinik erhielt sie naturheilkundliche Therapien mit dem Ziel, die Selbstregulation des Organismus anzuregen. Dazu gehörten entspannende Wickel und Auflagen, aber auch Akupunktur, Heilmassagen, Yoga und vollwertige Ernährung. Die Mind-Body-Medizin (MBM) eröffnete gleichzeitig der Patientin eine neue Welt. Sie verstand nun, wie sehr sie durch ihre psychischen und seelischen Konflikte belastet gewesen war, und sie lernte, ihr Stressniveau zu senken. Konflikte verschwanden zwar nicht, die Schmerzen auch nicht – aber die Patientin konnte sie innerlich mehr und mehr von sich wegschieben und dabei ohne Erregung betrachten. Das ermöglichte ihr schließlich sogar eine konstruktive Form der Auseinandersetzung mit ihrem Sohn. „Im Moment bin ich raus aus dem Rollstuhl“, erzählte die Patientin auf der Bühne, „und die Narbe schmerzt jetzt nur noch auf Vier. Oft denke ich gar nicht mehr daran.“
Raus aus der Schmerzspirale
Rund drei Millionen Menschen in Deutschland haben eine chronische Schmerzkrankheit. Um Erleichterung zu finden, nehmen viele der Betroffenen Medikamente ein, die Nebenwirkungen haben und neue Erkrankungen mit sich bringen. Bisher ist es der Medizin nicht gelungen, diese Negativspirale umzukehren – zumal die körperlichen Wurzeln des Schmerzes häufig weniger entscheidend für die Intensität sind als Stress, Gefühle und das Schmerzgedächtnis. Ebenfalls eine zentrale Rolle spielt ein Lebensstil, in dem ausreichende Bewegung oder gesunde Nahrungsmittel keinen Platz mehr haben.
Schmerzen haben Einfluss auf die Anforderungen des sozialen Umfeldes. Wer seit Jahren Schmerzmittel einnimmt, verliert mehr und mehr das Gefühl für sich selbst. Aus ganzheitlicher Sicht geht es deshalb nicht nur um die Symptome, sondern auch um die Biografie der Betroffenen, nicht vorrangig um ihre Schwächen, sondern um ihre Stärken. Ihre Gesundheitsressourcen sind zwar häufig verschüttet. Doch man kann sie aufbauen, man kann Hoffnung schüren, denn, wie die Placeboforschung zeigt, wirkt positive Erwartung im Gehirn bereits, bevor ein Schmerzmedikament wirken kann. Selbstwirksamkeit und Selbstfürsorge wecken den schlafenden inneren Arzt.
Sich akzeptieren, um sich zu ändern
Die Mind-Body-Medizin wurde in den USA aus der Stressforschung entwickelt. Im Kern ist sie eine Lebensstilmedizin, wie sie Teil aller traditionellen Heilsysteme ist. Neben der naturheilkundlichen Ordnungstherapie gehen Erkenntnisse der modernen Hirnforschung, der Psychoneuroimmunologie und der Gesundheitspädagogik ein. Der MBM geht es um die Beziehungen zwischen Gehirn, Psyche, Körper und Verhalten. Emotionale, mentale, spirituelle und soziale Faktoren wirken auf die Gesundheit. Das umfasst Gedanken, Gefühle und Erwartungen bis hin zu sozialen Netzen, Lebenszielen und der Sinndimension.