Achtsamkeit und Artischocken: Was hilft gegen die Angst?
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In den letzten Jahren hat das Thema Angst vor allem im Zuge der Corona-Pandemie und des Kriegs in der Ukraine deutlich an Bedeutung zugenommen. Prof. Dr. med. Gustav Dobos ist der profilierteste Vertreter der modernen Naturheilkunde in Europa. Er leitete 22 Jahre lang die Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte. Seit 2021 ist er Direktor des Zentrums Naturheilkunde und Planetare Gesundheit an der Universitätsklinik Essen. Natur und Medizin hat mit Prof. Dr. Dobos über das Thema Angst gesprochen.
Natur und Medizin:
„Angst ist ein großes Thema in unserer Gesellschaft“, betonen Sie. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, als Professor für Naturheilkunde ein „Anti-Angst-Buch“ über die Psyche zu schreiben?
Prof. Dr. Gustav Dobos:
Ich bin kein Experte für die Psyche, aber als ganzheitlich denkender Arzt sehe ich immer den ganzen Menschen. Angst ist ein riesiges Thema in unserer Gesellschaft, und auch Fachleute können sie nicht wegzaubern, denn ihre Ursachen sind real. Angst macht auf Dauer krank. Viele unserer 50.000 Patienten, die ich in den 22 Jahren meiner Chefarzttätigkeit behandelt habe, litten zusätzlich zu ihrer chronischen Krankheit an Ängsten oder Depressionen. Das hatte großen Einfluss auf ihr Leiden.
Wir haben das während der nicht enden wollenden Pandemie-Wellen gesehen. Man musste sich nicht mal real anstecken: Es war die Angst, die uns im Griff hielt. Eigentlich ist Angst ein sinnvoller Schutzmechanismus, sie warnt uns und verleiht uns kurzfristig enorme Kräfte für Kampf oder Flucht. Es geht also nicht darum, die Angst auszuradieren. Doch wenn sie bestehen bleibt, anstatt abzuklingen, dann bedeutet das großen Stress für Psyche und Organismus.
Körperlich waren vor allem ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen gefährdet. Doch psychisch litten Kinder und Jugendliche. Das gilt im Übrigen auch für die wachsenden Ängste wegen des Klimawandels: Drei von vier jungen Erwachsenen zwischen 16 und 25 Jahren beschrieben dies in einer internationalen Umfrage. 56 Prozent meinten, die Menschheit sei dem Untergang geweiht.
Doch was kann man nun dagegen tun? Der Klimawandel ist real, auch die Bedrohung des Kriegs in der Ukraine ist es.
Weil die Ursachen so real sind, suchen auch die Psychologen noch nach Antworten. Angststörungen, die irreale Ursachen haben, können sie gut behandeln: Man konfrontiert die Betroffenen immer mehr mit einem Angstreiz, zum Beispiel Bildern von Spinnen, bis die körperlichen Reaktionen abklingen und sich schließlich auch die Psyche beruhigt. Aber gegen die Klimaangst oder COVID kann man nicht desensibilisieren – man kann die Menschen nicht endlos der Hitze aussetzen oder sie ohne Maske auf eine COVID-Station schicken.
Werden wir uns unserer Gefühle bewusst, dann können wir anders damit umgehen. Emotionsregulation ist ein wichtiger Bestandteil der Selbstfürsorge.
Zum Beispiel Berührung. Berührung ist ein Reiz im Sinne der Naturheilkunde, sie aktiviert als Reaktion Gefühle, die in unserem Körper gespeichert sind. Ob das feuchtwarme Wickel sind oder Akupunkturnadeln oder eine Schröpfkopfmassage – all das bringt Dinge in unserem Inneren in Bewegung. Will man Menschen erreichen, schafft man das besser über Gefühle als über Worte, schrieb der französische Psychiater David Servan-Schreiber.
Werden wir uns unserer Gefühle bewusst, dann können wir anders damit umgehen. Wir können lernen, uns von unseren Emotionen nicht mehr überwältigen zu lassen, sondern ihnen einen Platz zuzuweisen, der uns nicht mehr blockiert. Emotionsregulation ist ein wichtiger Bestandteil der Selbstfürsorge.
Zunächst einmal lernen wir in der Mind-Body-Medizin, der modernen Erweiterung der Naturheilkunde, zu spüren und zu differenzieren, was für Gefühle überhaupt auftreten. Wir überprüfen unsere Denkmuster: Wie oft hat mich schon die Panik überfallen, aber nichts von den negativen Vorhersagen ist eingetreten? Und warum reagiere ich häufig so negativ? Wir überprüfen unsere körperlichen Reaktionen: Hatte ich das flaue Gefühl im Magen nach der Nachrichtensendung? Hat sie mir Angst gemacht?
Das Ziel ist es, den Stress und damit die Angst abzubauen. Dabei helfen einfache Entspannungsübungen wie die Progressive Muskelentspannung, das dauert nur zehn Minuten. Nachhaltigere Wirkung bekommen diejenigen, die täglich einen BodyScan durchführen. Das ist eine Achtsamkeitsübung, bei der man rund 30 Minuten in Gedanken durch den ganzen Körper wandert, ohne sich zu bewegen. Der Scan ist die bekannteste Übung des Achtsamkeitstrainings (MBSR), das ich jedem Menschen nur empfehlen kann. Es dauert acht Wochen und kann bei einem Therapeuten real eingeübt oder auch online absolviert werden. Dort lernt man viele praktische Tipps für den Alltag, kurze minutenlange Übungen, sog. Minis.
Die Achtsamkeit ist eigentlich ein abgespecktes Meditationsprogramm, das ihr Erfinder, der Stressforscher Jon Kabat-Zinn der spirituellen und kulturspezifischen Aspekte entkleidet hat, um es möglichst breit international anwenden zu können. Aber sinnvoll ist auch jede andere Form der Meditation. Alles, was in das Feld der Aufmerksamkeit tritt, das ist das Wichtige, soll zunächst einmal sein dürfen, ohne Wertung. Das gilt auch für Ängste. Erst diese Akzeptanz schafft den Boden dafür, sich selbst wieder zu vertrauen und der Angst dann einen anderen Platz zuzuweisen. Die Konzentration auf den Atem, der unser Inneres mit dem Äußeren verbindet, hilft dabei.
Sie haben mit Ihrem Team ein 6-Wochen-Programm gegen die Angst entwickelt. Was kann man damit erreichen?
Keine naturheilkundliche Anwendung ist per se der alleinseligmachende Weg. Wir arbeiten nicht mit standardisierten Monotherapien, sondern mit unspezifischen Reizen, die bei jedem anders wirken. Deshalb ist es sinnvoll, unterschiedliche Ansätze miteinander zu kombinieren – Entspannung, Atem, Meditation, Ernährung und auch die Bewegung, die wichtige Impulse gibt. Das 6-Wochen-Programm enthält alle diese Elemente und wirbt dafür, dass Sie sich eine Stunde täglich dafür Zeit nehmen. Danach sind zwar Klimakrise und Krieg nicht verschwunden, aber Sie werden spüren, dass Sie einen gewissen Abstand zwischen sich und Ihre Ängste legen können – und es wird Ihnen in jedem Fall besser gehen.