Naturheilkunde
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Yoga und Meditation: Zuviel des Guten?
Bitte keinen Leistungssport!

Zuviel des Guten?

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Achtsamkeit Stress Mentale Gesundheit

Für viele Patienten, die wegen einer chronischen Krankheit oder einem psychosomatischen Leiden die Mind-Body-Medizin kennenlernen, ist das eine echte Offenbarung: Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben machen sie die Erfahrung, dass sie selbst positiven Einfluss auf ihren Körper nehmen können.

Aus der Klinik für Naturheilkunde entlassen, fühlen sich die Patienten meist super motiviert und üben fleißig an den Neuerungen ihres Lebensstils. Prompt stellen sich auch erste Erfolge ein. Der Ehrgeiz wächst: Einige verdoppeln ihre Anstrengungen und beißen die Zähne zusammen, nach dem Motto: „Da muss doch noch mehr gehen!“ Man zwingt sich rund um die Uhr zur Achtsamkeit, übt sich im Power-Yoga oder meditiert noch um Mitternacht. Doch wer davon besessen ist, sich selbst zu optimieren, dem fehlen Selbstliebe und Akzeptanz der eigenen Person. Der Kontakt zu sich selbst wird wegtrainiert. Dann stocken die Fortschritte plötzlich, die Migräne kommt zurück oder die Darmentzündung flackert wieder auf. Dann ist man an einem kritischen Punkt angekommen – denn gerade diejenigen, die alles perfekt machen wollen, werfen nun die Flinte ins Korn. Scheint ja doch nichts zu nützen, die ganze Mind-Body-Medizin.

Doch an den Übungen liegt es nicht.
Naturheilkundliche Verfahren und Mind-Body-Verfahren wirken nicht linear, mehr hilft nicht mehr

Stattdessen sind sie ein Impuls für die körpereigenen Regelkreise, sich selbst neu zu justieren – und je nach individueller Konstitution, je nach individuellen Biorhythmen, aber auch je nach den äußeren Lebensumständen und der sozialen Eingebundenheit wirken sie mit unterschiedlicher Intensität. Aber sie wirken.

Auch „sanfte“ Methoden können Nebenwirkungen haben. Naturheilkundliche Therapien sind davon genauso wenig ausgenommen wie Mind-Body-Verfahren. Manche Menschen, vor allem sehr schlanke, halten vielleicht eine Fastenkur keine zehn Tage durch, sondern nur die Hälfte der Zeit. Ihr Körper signalisiert ihnen das auch – und protestiert, wenn sie nur die Nahrungsaufnahme reduzieren oder einstellen, nicht aber ihre täglichen Stress. Auch Achtsamkeit geht eben nicht so nebenbei, sondern wirkt nur, wenn der Kontext dazu passt. Und Kneippen ist zwar gesund, doch wer sich nach einem feuchtkalten Wickel nicht ausruht oder den Leberwickel zu heiß macht, der strapaziert seinen Körper und versetzt ihn in Stress. Und schon hat man das Gegenteil von dem erreicht, was man eigentlich wollte.

Dass scheinbar „sanfte“ Methoden auch negative Auswirkungen haben können, betrifft auch einen Bereich, in dem man das vielleicht am wenigsten erwartet: Meditation, Yoga, Progressive Muskelentspannung und Achtsamkeit. „Zuviel des Guten“ hatte der SPIEGEL, notorischer Kritiker aller traditionellen Heilverfahren, im Herbst vergangenen Jahres getitelt. Und doch damit den Nagel auf den Kopf getroffen: Wer die zitierten Verfahren als Mittel der Selbstoptimierung einsetzt, wird nicht nur dieses Ziel verfehlen, sondern kann sich dabei auch schaden. Wenn ein im Dauerstress befindlicher Manager einmal im Jahr sein Handy abgibt und sich für fünf Tage auf einen Schweige-Retreat begibt, muss er sich nicht wundern, wenn er dann in eine nervöse Krise rutscht.

Selbst einfache Entspannungsübungen versetzen viele Menschen erst einmal in Unruhe oder sogar Panik, sie empfinden sie nicht automatisch als angenehm.

Und Menschen mit einer psychischen Störung können durch eine Meditation in den Zustand der Dissoziation geraten, bei dem sich ihre Wahrnehmung und ihre Gefühlsfähigkeit vorübergehend verändert. Deswegen sollte dies professionell erlernt und nicht wie heute oft üblich, nur im online Kurs vermittelt werden.

Ein Grundirrtum besteht darin zu glauben, man könne alles mit Innerlichkeit allein lösen. Denn so wie Soma und Seele zusammengehören, so ist eine Therapie erst durch die Verbindung von körperlichen Reizen und mentalen Übungen komplett. Das bedeutet Arbeit am Körper, zum Beispiel durch regelmäßige Bewegung oder gesundes Essen, aber auch Arbeit an der Psyche. Methoden, die Körper und Geist verbinden, wie z. B. achtsames Yoga oder der Body Scan aus dem MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction), helfen der ganzheitlichen Wahrnehmung und Entwicklung des Körpers.

Yoga ist kein Leistungssport

Die Fähigkeit zur Entspannung kann man zwar auftrainieren wie einen Muskel. Doch ohne die unterschiedlichen Dimensionen des Lebens zu berücksichtigen, wie die sozialen und emotionalen Beziehungen, den Rhythmus von Aktivität und Ruhe oder auch spirituelle Aspekte, ist keine wirkliche Achtsamkeit möglich. Und wenn Menschen diese kennenlernen, indem sie die berühmte Rosinen-Übung absolvieren, dann kann das nur ein erstes Gefühl sein für die Schulung der eigenen Wahrnehmung. Darum geht es im Kern und weniger darum, eine Rosine zwanzigmal zu kauen.

Die Meditation ist, auch das wird oft verwechselt, nicht nur eine Entspannungsübung. Sie ist vielmehr die Begegnung mit sich selbst, in Ruhe.

Probleme wegzumeditieren klappt nicht

Wer also das aus der Mind-Body-Medizin Gelernte nicht in sein Leben einpasst und -ordnet, sondern glaubt, er könne diese Techniken nur ab und an wie ein Werkzeug nutzen, um an seiner „Performance“ herumzuschrauben, der wird nie die volle Kraft einer Praxis wie der Achtsamkeit erfahren. Oder sich sogar schaden: Wer Yoga wie Leistungssport praktiziert, läuft Gefahr, sich bei einem Asana zu verletzen. Auch „Probleme wegzumeditieren“, wie der SPIEGEL argwöhnt, klappt nicht. Die Hirnforschung zeigt allerdings, dass bei regelmäßigem Meditieren das Mitgefühl nicht abnimmt, sondern im Gegenteil geschärft wird. Was aber abnimmt, ist das persönliche Mitleiden, das Körper und Psyche belastet. Das jedoch hilft in der Praxis eher, Probleme nicht zu verdrängen, sondern anzugehen.

Als Teil des Kosmos wahrnehmen

Wer meditiert, begegnet seinem Wesen, setzt sich sich selbst aus, versucht, in Kontakt mit seinem Innersten zu kommen, es vielleicht auch weiterzuentwickeln. Es geht also nicht um das „Hinnehmen“ der Welt, sondern darum, sie bewusster wahrzunehmen, um sich selbst als Teil des Kosmos neu achten zu lernen.

Stress

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Dr. Anna Paul
Dr. rer. medic. Anna Paul

Leitung Ordnungstherapie, Mind-Body-Medizin, Arbeitsgruppe Prävention & Gesundheitsförderung, Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin, Evang. Kliniken Essen-Mitte. Dr. Anna Paul ist Vorstandsvorsitzende von Natur und Medizin e.V.